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78. Prozesstag: 31. Mai 2002
Sprengstoff mit wirklich nachhaltiger Wirkung
Mit reichlich Verspätung begann die heutige Hauptverhandlung.
Diese Verzögerung war allerdings nicht Ausdruck bewusster Solidarität
mit den rund 15.000 Gewerkschaftern, die am Vormittag die Berliner
Innenstadt - zumindest verkehrsmäßig - lahm legten, als
sie für die Annahme des so genannten Tariftreuegesetztes demonstrierten.
Weit gefehlt! Grund für die Verspätung war der in der
Innenstadt zusammengebrochene Straßenverkehr. Erst nach und
nach trafen so die Verfahrensbeteiligten ein, zuletzt der Ersatzrichter
Wagner.
Ein Alibi, stichhaltiger geht es nicht
Was folgte war ein Lesemarathon des Berichterstattenden Richters
Hanschke. Zur Verlesung kamen Haftbefehle, Meldebescheinigungen,
Durchsuchungsbeschlüsse, Einlieferungsschreiben, Festnahmeprotokolle,
Aufnahmegesuche, Beschlüsse des Amtsgerichts Tiergarten und
Entlassungsschreiben. Sie alle kreisten um die Person von Harald
G. und sollten gerichtsbekannt machen, was schon vor Beginn dieses
Prozesses kein Geheimnis war, gleichzeitig die Bundesanwaltschaft
und das Gericht allerdings nicht daran hinderte, diesen Punkt zur
Anklage zu bringen: Harald G. befand sich zum Zeitpunkt des Anschlags
auf die Zentrale Sozialhilfestelle für Asylbewerber in der
Nacht vom 5. auf den 6. Januar 1987 in Polizeigewahrsam.
Hintergrund ist ein Betrugsdelikt mit gefälschten Postbanksparbüchern,
das in den Worten des Kronzeugen "RZ-Relevanz" aufweisen soll. Dementsprechend
sprechen die Ermittlungsbehörden fünfzehn Jahre später
von einer "Postsparbuchaktion" der RZ, wovon allerdings zum Zeitpunkt
der Verurteilung von Harald G. 1989 keine Rede war. Aber zurück
ins Jahr 1986: Im Frühjahr 1986 wurde gegen Harald G. ein Haftbefehl
wegen des Vorwurfs des Betrugs vom Amtsgericht Tiergarten erlassen.
Vollstreckt werden konnte der Haftbefehl allerdings nicht, denn
Harald G. weilte in Nicaragua. Ausweislich einer entsprechenden
Bescheinigung des Landeseinwohneramt Berlin meldete er sich jedoch
am 1.12.1986 wieder unter einer Kreuzberger Adresse an. Am 5.1.1987
wird er gegen 8.30 Uhr in dieser Wohnung festgenommen und am frühen
Nachmittag ins Polizeigewahrsam eingeliefert. Am
nächsten Tag wird er in die JVA Moabit überführt.
Auf Beschluss des Amtsgerichts Tiergarten vom 17.1.1987 wird Harald
G. unter Auflagen haftverschont und noch am selben Tag gegen 15
Uhr aus der Haft entlassen. Zwei Jahre später erfolgt die Verurteilung
von Harald G. wegen Betrugs.
Dass Harald G., entgegen der Behauptungen des Kronzeugen, am Anschlag
auf die ZSA nicht beteiligt war, ist also offenkundig. Die Sprengstoffexplosion,
die ein kleines Loch in die Außenwand der ZSA riss (5.000
Mark Sachschaden), erfolgte kurz nach Mitternacht am 6. Januar 1987.
Unglaubwürdig ist auch, dass Harald G. trotz bestehendem Haftbefehls
und laufender Ermittlungen in die Vorbereitung des Anschlags eingebunden
gewesen sein soll, wie es Tarek Mousli behauptet.
BAW auf Dienstreise
Bundesanwalt Bruns gab sich im weiteren Verlauf der Hauptverhandlung
kulant - allerdings in einer anderen Sache. Zwar konnte er sich
nicht verkneifen, den Beweisantrag von Rechtsanwalt von Schliefen
vom 10.5.2002 juristische Mängel zu unterstellen (die Ladung
von neun BKA-Beamten, die über die Durchsuchung des Mehringhofes
berichten sollten, zielte vornehmlich auf deren Schlussfolgerungen
ab), gleichwohl wolle seine Behörde dem Antrag nicht entgegentreten.
Allerdings regte er an, einige seiner KollegInnen ebenfalls als
Zeugen zu laden. Nicht so sehr eine zusätzliche Dienstreise
nach Berlin, sondern eher die dadurch entstehende Möglichkeit,
die Durchsuchungsaktion gleich ins "rechte" Licht rücken zu
können, dürfte das Motiv hinter dieser Anregung sein.
Denn die bisherige Beweisaufnahme hat - selbst in den Augen des
Gerichts - mehr als deutlich gemacht, dass das angebliche Sprengstoffdepot
im Mehringhof nichts anderes als ein Hirngespinst des Kronzeugen
ist. Weder wurde Sprengstoff gefunden, noch stimmen die Angaben
über den angebliche Lagerort bzw. die Lagerorte (Tarek Mousli
wollte sich auf einen Ort nicht festlegen) mit den örtlichen
Gegebenheiten überein. Doch Bundesanwalt Bruns gab sich zuversichtlich,
dass seine Kollegen trotzdem "Angaben zum tatsächlichen Verlauf
der Durchsuchung, dem Umfang und der Nachhaltigkeit der Aktion"
machen könnten.
Sprengstoff, der zum Himmel stinkt
Bereits am vorletzten Verhandlungstag sorgte die überraschende
Zusammensetzung des Sprengstoffes vom Fundort "Seegraben" - der
in einer Probe keine Ähnlichkeit mit Gelamon 40 aufwies - für
erste Ungereimtheiten. Auch die wissenschaftliche Vermutung über
eine nur sehr kurze Wasserberührung des angeblichen Gelamon
40 vertiefte die Zweifel an den bisherigen Aussagen des Kronzeugen.
(vgl. 76. Prozesstag, 23.5.2002)
Heute legte die Verteidigung vom Matthias B. in diesem Zusammenhang
nach - mit sage und schreibe sechs Beweisanträgen! Geladen
werden sollen Beamte des Bundeskriminalamts und des Landeskriminalamts
Berlin sowie Mitarbeiter der Firmen Westspreng und Anhaltinischen
Chemischen Fabriken. Außerdem soll ein weiteres Gutachten
klären, wie lange der Sprengstoff, den Mousli im Seegraben
1995 versenkt haben will, Wasser ausgesetzt war. Aufklärung
erhofft sich die Verteidigung dadurch über die Frage, was aus
Tarek Mouslis Keller 1995 wirklich gestohlen wurde.
Nach
offizieller Version ist vom dem Kronzeugen durch einen Sprengstoffdiebstahl
im März 1995 aus seinem Keller auf die Spur gekommen. Als die
Diebe ihren Fund zu Geld machen wollten - den zurückgelassenen
Rest des Sprengstoffs will Mousli sofort nach dem Diebstahl in einem
Seegraben im Norden Berlins versenkt haben -, kam die Polizei ins
Spiel. Sofort setzte das LKA Berlin das BKA von dem Sprengstofffund
in Kenntnis. Bei dem Sprengstoff soll es sich um Gelamon 40 gehandelt
haben, einen Sprengstoff, der seit 1987 bei mehreren RZ-Anschlägen
verwandt worden war. Doch von Seiten des BKA geschah angeblich nichts.
Also stellte das LKA im Rahmen des Ermittlungsverfahrens gegen Dieter
S., der in Mouslis Keller eingestiegen war, eigene Recherchen über
den Sprengstoff an. Die Auskunft des Herstellers aus der DDR, des
VEB Schönebeck, ergab, dass der Sprengstoff, der mit einer
entsprechenden Losnummer gekennzeichnet war, mit großer Wahrscheinlichkeit
1987 an so genannte Sonderbedarfsträger - also die Nationale
Volksarmee (NVA) oder das Ministerium für Staatssicherheit
(MfS) - ausgehändigt worden war.
Obwohl das LKA Berlin bereits 1995 den Fund an das BKA meldete,
will das BKA davon erst im November 1997 erfahren haben bzw. erkannt
haben, dass dieser Fund einen "RZ-Bezug" hat. Erst zu diesem Zeitpunkt
kamen sie zu dem Ergebnis, dass der Sprengstoff aus einem Einbruch
bei der Firma Klöckner Durilit in Salzhemmendorf stammt. Unklar
ist auch, warum das BKA drei Jahre verstreichen ließ, bis
es nach eigenen Angaben die ersten Ermittlungen anstellte. Erklärungsbedürftig
ist dies vor allem deshalb, weil man weiß, wie schnell die
BKA- Maschinerie normalerweise bei einer solchen Meldung anspringt.
Von dieser normalerweise sofort anlaufenden Maschinerie hatte ein
BKA-Beamter mittlerweile in der Hauptverhandlung auch sehr anschaulich
berichtet. (37. Prozesstag,
22.11.2001)
Ein Klebeband, aus dem für den Kronzeugen ein
Strick werden könnte
Dass die Version, die Mousli zum Sprengstoffdiebstahl und der angeblichen
Entsorgung des nicht geklauten Sprengstoffes auftischt, nicht stimmt,
legt auch ein vorläufiges Gutachten des Fraunhofer Instituts
nahe. Darin war der Frage nachgegangen worden, wie lange das Klebeband,
mit dem das Sprengstoffpaket umwickelt war, das Mousli 1995 im Seegraben
versenkt haben will, Wasser ausgesetzt gewesen ist. Die Gutachter
kamen zu einem eindeutigen, für den Kronzeugen allerdings unerfreulichen
Ergebnis: "Die Untersuchung des Zustands des Klebebands zeigt, dass
es bezüglich der Einwirkung von Wasser praktisch unverändert
ist. Das ist ein Hinweis darauf, dass sich das Paket nur kurze Zeit
- bis zu wenigen Monaten - in dem Graben befunden hat. Eine vierjährige
Lagerung in dem Gewässer wird auf Grund des nahezu unversehrten
Zustands der Klebemasse für unwahrscheinlich gehalten."
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